Wandering. A Rohingya Story - Interview mit Regisseur

Innerhalb weniger Monate wurde das Flüchtlingscamp Kutupalong in Bangladesch zum größten der Welt. 700.000 Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya flohen 2017 aus Myanmar vor der eskalierenden Militärgewalt und suchten in Bangladesch Asyl. Der Dokumentarfilm "Wandering. A Rohingya Story" von Olivier Higgins und Mélanie Carrier trägt die Geschichten der Rohingya aus Kutupalong hinaus in die Welt. Begleitet durch die Poesie eines jungen Rohingya namens Kalam erzählt ihr Film in traumähnlichen Bildern von der Möglichkeit eines Lebens zwischen Traumabewältigung und Stillstand, sowie von Momenten der Hoffnung und Neuanfängen. Ein Interview von Save the Children

Save the Children: Warum haben Sie das Flüchtlingscamp Kutupalong als Ausgangspunkt für Ihren Dokumentarfilm gewählt?  

Olivier Higgins: Der Ausgangspunkt war ein sehr bewegender Facebook-Post des Fotografen Renaud Philippe im Februar 2018. Damals dokumentierte Renaud, der bereits mit Save the Children zusammengearbeitet hat, das Flüchtlingscamp Kutupalong und die Situation der dort lebenden Rohingya. In seinem Beitrag wies er darauf hin, dass er noch nie ein Camp solchen Ausmaßes gesehen hätte und dass im Vergleich zu den schockierenden Umständen, unter denen die Menschen dort leben, zu wenige Medien darüber berichteten.

Als Renaud nach Québec [, Kanada,] zurückkam, fragten meine Partnerin Mélanie und ich ihn sofort, ob wir gemeinsam Kutupalong besuchen könnten, um einen Kurzfilm zu drehen – der sich schnell zu einem Dokumentarfilm entwickelte – und Renaud sagte zu. Mit unserem Film wollten wir eine andere Art des Storytellings erreichen und etwas schaffen, bei dem unsere Zuschauer*innen die Menschen hinter den Fakten und politischen Themen, die in den Medien oft dominieren, zu spüren bekommen. Unser Ziel war es, die Menschen mit den Geschichten der Rohingya und ihrer Situation im Camp zu berühren.

Begleitend zu unserem Film wird im Québec National Museum of Fine Arts eine multidisziplinäre Ausstellung mit dem gleichnamigen Titel "Wandering, a Rohingya Story" gezeigt, in der auch Fotografien von Renaud zu sehen sind.

Save the Children: Was waren Ihre größten Herausforderungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Dreharbeiten in Kutupalong?

Higgins: Zum Zeitpunkt unserer Dreharbeiten im Oktober 2018 war es noch etwas leichter als heute, in das Camp zu kommen, während unseres Aufenthalts wurde es jedoch immer schwieriger. Insgesamt haben wir dort einen Monat lang gefilmt und mussten das Camp jeden Tag vor Einbruch der Dunkelheit verlassen. Daneben gab es natürlich noch weitere Schwierigkeiten, wie zum Beispiel das Wetter und der strömende Regen, aber auch die regelmäßigen Sicherheitskontrollen, oft auch ohne Ankündigung durch Vertreter der bangladeschischen Regierung im Camp. Für unseren Dokumentarfilm versuchten wir, nicht zu sehr in politische Diskussionen einzusteigen, sondern einen humanistischen Ansatz zu verfolgen, und den Fokus auf die Geschichten der Rohingya, die wir getroffen haben, zu legen.

Eine der größten Herausforderungen für mich war die Konfrontation mit einer solchen Tragödie, denn Bilder von einer solchen Situation zu machen, ist sehr sensibel, und für mich als Filmemacher eine sehr emotionale Angelegenheit.
Olivier Higgins, Regisseur "Wandering. A Rohingya Story"
Olivier Higgins, Regisseur "Wandering. A Rohingya Story"

Save the Children: Wo und wie haben Sie Kalam getroffen, einen jungen Rohingya, der in dem Camp lebt und dessen Poesie uns durch den Film begleitet?

Higgins: Der Fotograf Renaud hat Kalam bereits während seines früheren Aufenthalts in Kutupalong kennengelernt, und wir haben ihn dann erneut kontaktiert. Seine Geschichte und Gedichte spielen eine zentrale Rolle in unserem Film. Kalam ist jung, aber weiß schon sehr gut, wie man mit Menschen in Kontakt tritt, und hat uns sehr geholfen, mit anderen Geflüchteten, einschließlich seiner Familie und Freunden, zu kommunizieren und Vertrauen aufzubauen.

Trailer

Trailer | Wandering, a Rohingya Story (2020) | Olivier Higgins & Mélanie Carrier

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Save the Children: In Ihrem Film stellt der Erzähler Mohammed Shofi die poetische Frage: "Ist es an diesem Ort, außerhalb von Zeit und Raum, überhaupt möglich zu existieren?" Wie ließe sich diese Frage Ihrer Meinung nach beantworten?  

Higgins: Darüber haben wir viel mit unserem Freund Mohammed Shofi gesprochen, der die Geschichte von Kalam erzählt. [Shofi ist ein Rohingya, der in Kutupalong lebte, bevor er im November 2008 als Flüchtling in Kanada aufgenommen wurde. Seitdem lebt er mit seiner Familie in Québec.] Die Stimme, die man im Film hört, ist also Shofi, der Gedichte von Kalam vorliest.  

Shofi lebte 18 Jahre lang in Kutupalong. [Das Camp wurde bereits 1991 eingerichtet]. Er erzählt mir oft, dass er das Camp bis heute vermisst. Er hat die Hälfte seines Lebens dort verbracht und viele gute Erinnerungen an Freundschaften aus dieser Zeit. Er floh aus seinem Heimatland Myanmar und zog in das Camp, als er ein Jahr alt war, und hat es erst mit 19 wieder verlassen. Er erzählte uns, dass die Zeit im Camp als Kind die schönste Zeit war, die er je hatte, dort zusammen mit seinen Freunden spielen zu können und Spaß zu haben. Er meinte, dass man in diesem jungen Alter die Außenwelt oder die Situation, in der man sich befindet, noch nicht wirklich wahrnimmt. Aber als er älter wurde und weiterhin im Camp leben musste, verlor er die Hoffnung in die Zukunft.

Wenn du also an nichts glaubst oder daran, dass sich die Dinge ändern werden, existierst du dann? Wenn man keine Macht verspürt oder sich nutzlos fühlt, ist es schwer, sich lebendig zu fühlen – so hat es Shofi uns gegenüber beschrieben.
Olivier Higgins, Regisseur "Wandering. A Rohingya Story"
Olivier Higgins, Regisseur "Wandering. A Rohingya Story"

Save the Children: An einer Stelle erzählt ein Junge von wiederkehrenden Albträumen, von einem Geist, der ihn heimsucht. Wofür, würden Sie sagen, steht dieser Geist?  

Higgins: Kalam und ich hatten viele Gespräche im Camp über diesen Geist, sodass er letztendlich zu einem Leitmotiv für unseren Film wurde. Er sagte, dass er sich selbst manchmal wie ein Geist fühlt, dass die Rohingya für die Welt wie unsichtbare Geister seien. In Bezug auf dieses Gefühl stellte er also die Frage: Wenn man kein Land hat, wenn man kein Bürger eines Landes ist, kann man dann überhaupt existieren?

In dem Film gibt es eine Szene, in der ein kleiner Junge ein Lied singt und dabei vor einem Schutz- und Spielraum steht, der von Save the Children im Camp eingerichtet wurde. Wir wurden dazu eingeladen, uns in diesem Raum die Zeichnungen der Kinder anzusehen. Wir fanden diesen Ort sehr schön für die Kinder und ihre Zeichnungen sehr eindrucksvoll. Die meisten von ihnen haben Blumen, Tiere oder das Camp gemalt. Aber einige zeichneten auch ihre Geschichte, ihre Erinnerungen nach. Niemand hat sie dazu aufgefordert, diese Zeichnungen zu machen, in denen sie ihr Trauma und ihre Erfahrungen ausdrücken, aber sie haben es trotzdem getan.

Das war ein starker Kontrast für uns. Durch diese bewegenden Zeichnungen konnte man fühlen und verstehen, dass diese Kinder für viele weitere Jahre, vielleicht für Generationen, ihre Vergangenheit, teilweise die Trauer um ihre Liebsten und ihre Geister mit sich tragen werden.

Save the Children: Haben Sie während Ihres Aufenthalts in Kutupalong eine bestimmte Art von Hoffnung gespürt? Welche Wünsche für ihre Zukunft haben die Rohingya, die Sie getroffen haben, mit Ihnen geteilt?  

Higgins: Als ich mich mit Shofi unterhielt, sagte er mir, dass er nicht wirklich Hoffnung verspüre, aber dass er in seine Heimat [Myanmar, ehemals] Birma zurückkehren wolle. Als ich ihn fragte, was er als Heimat bezeichnet, sagte er Birma, obwohl er es schon in jungen Jahren verlassen und die meiste Zeit seines Lebens im Camp verbracht hat. Aber da seine Eltern ihm immer von diesem Land erzählt haben, zu dem die Rohingya gehören, ist dieser Ort ihm sehr ans Herz gewachsen. Er sagte mir: Jeder braucht eine Heimat, jeder hat es verdient, sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Seine Heimat ist also Birma, auch wenn er nie wirklich dort gelebt hat. Und ich denke, dass dies viele Rohingya, die in Kutupalong leben, ähnlich empfinden.

Die Hoffnung, die wir in unserem Film vor allem zum Ausdruck bringen wollten, sind die Kinder, wenn wir sie etwa beim Fußballspielen oder Drachensteigen im Camp beobachten. Sie stehen für die Hoffnung und die Widerstandsfähigkeit des Lebens.
Olivier Higgins, Regisseur "Wandering. A Rohingya Story"
Olivier Higgins, Regisseur "Wandering. A Rohingya Story"

Nach all diesen Tragödien [,die die Rohingya erleben mussten,] gibt es immer noch Licht, gibt es Liebe, gibt es Kinder, die im Camp geboren werden. Und ich denke, dass wir diese Kraft des Lebens bewahren müssen, während wir weiterhin versuchen, Konflikte und Situationen wie diese Krise zu lösen.

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25. SEPTEMBER 2021