Fokus: Neue Narrative - Gastbeitrag von Annina van Neel

Warum die Auseinandersetzung mit vergangenen Gräueltaten für zukünftige Generationen wichtig ist und welche Rolle Storytelling dabei spielt

Ein Kommentar von Annina van Neel, Beraterin für Umwelt und Kulturelles Erbe, St. Helena

Es gibt tausende afrikanischer Begräbnisstätten, die die unerzählten Geschichten der großen Traumata und Niederlagen erzählen, die Menschen afrikanischer Abstammung seit 350 Jahren und länger mit sich tragen und ertragen müssen. Geschichten, die somit in die am stärksten marginalisierten und isolierten schwarzen Gemeinschaften verbannt werden. Ohne die Möglichkeit, ihre Vorfahren angemessen zu schützen und sich mit dem Respekt zu erinnern, den sie verdienen. Der Versuch, sich an historische Traumata und Wunden zu erinnern, die durch Kolonialismus, Sklaverei und Sklavenhandel entstanden sind, und der Versuch diese zu heilen,  wird so weiter entmenschlicht.
 

A Story Of Bones
Joseph Curran, Dominic Aubrey de Vere | UK | 2021 | 95 Min. | OmeU

Filmscreening & Podiumsdiskussion:
17.10. | 21:00 | ACUDkino 
18.10. | 18:00 | Kant Kino

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A Story Of Bones

Die abgelegene Insel St. Helena ist vor allem dafür bekannt, dass Napoleon dort seine letzten Jahre im Exil verbrachte und schließlich begraben wurde. Sein Grab ist wunderschön gepflegt und dient als die größte Touristenattraktion der Insel. Um den Tourismus zu fördern, beschließt die Insel, ihren ersten kommerziellen Flughafen zu bauen. Annina van Neel kommt aus Namibia, um bei den Bauarbeiten zu helfen, und ist dabei, als die Überreste Tausender "befreiter Sklaven" entdeckt werden. Da ihr der Umgang mit den sterblichen Überresten immer unangenehmer wird, setzt sich Nina unermüdlich dafür ein, ihr Vermächtnis zu ehren und sie in die Geschichte der Insel zu integrieren - schließlich ist ihr Schicksal mit dem Napoleons verwoben.


Heute ist Schwarzes Kulturerbe von Berücksichtigung, Förderung und Rechtsschutz ausgeschlossen. Das allgemein akzeptiertere koloniale Erbe und Lehrpläne (Archäologie, wissenschaftliche Forschung, Geschichte und Bildung) ersetzen alle Versuche der Nachkommen, sich mit ihrer Geschichte zu verbinden. So werden schwarze Geschichten unsichtbar, haben keine Stimme, werden ebenfalls letztlich entmenschlicht.

Die afrikanischen Begräbnisstätten auf der Insel Saint Helena, einem britischen Überseegebiet, sind die bedeutendste physische Spur der sogenannten Mittleren Passage, eines Abschnitss des transatlantischen Sklavenhandels. Obwohl diese Begräbnisstätten (bis zu 10.000 ehemals versklavte Afrikaner) als  solche von globaler Bedeutung proklamiert werden, ist die lokale und globale Nachkommenschaft vollständig von dieser Geschichte und dem Ort und Raum, der mit ihr verbunden ist, getrennt.

Die Folge ist eine Gemeinschaft, die ihre Verbindung zu dieser Vergangenheit unterdrückt hat, die so tief im Schmerz wurzelt. Wer könnte ihr das verübeln. Diese Trennung geht so tief, dass die Geschichte und ihr Ort aussortiert, an den Rand gedrängt und stattdessen bequemere Erzählungen angenommen und gepflegt wurden.

Mit authentischem und ehrlichem Storytelling fangen wir an, den Finger in die Wunde zu legen. Indem wir Aufmerksamkeit erregen und Bewusstsein schaffen, drängen wir auf ein Gefühl des Erwachens. Ein Aufbruch, der nur erreicht werden kann, wenn die Geschichte, die erzählt wird, den Kern der Menschenwürde trifft. Die Menchenwürde ist die einzige Komponente, die immer auf dem Spiel stand und stehen wird. Die einzige Komponente, die eine Rolle spielen sollte, und zwar die Würde der Lebenden und der Toten.

Die Würde einer Generation ist an ihre Vergangenheit gebunden : darin offenbart sich die Macht des Geschichtenerzählens. Storytelling befähigt eine Gemeinschaft die Trennung zu dekonstruieren, die durch Generationen des Todschweigens genährt wurde. Es befähigt diese Generation befähigt nicht nur ihre Geschichte zurückzugewinnen, sondern sie mit einer Stimme des Wissens neu zu schreiben, mit Integrität und Würde, ohne sich zu entschuldigen.

Geschichten, derren Narative in Heilung und Wahrheit wurzeln, werden unbequeme Gespräche anregen, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten darauf warten geführt zu werden. Diese Gespräche werden zu Kontemplation, Reflexion und Verständnis führen. Ein Samen des Hungers nach Wahrheit und Identität wird gepflanzt und entzündet ein größeres Verlangen, authentischere Geschichten zu hören und zu erzählen. So wird die zerbrochene traumatische Geschichte zusammengesetzt, die uns in der Gegenwart definiert.

Wenn wir unsere Vergangenheit kennen, können wir unsere Zukunft wirklich besitzen. Die Wiedererlangung unserer Vergangenheit ist wie eine Salbe für die Zukunft. Hindernisse und Herausforderungen werden aus Weisheit und nicht aus Angst angegangen.

Storytelling imprägniert Unwissenheit mit Licht. Licht, das wächst, alles durchdringt, berührt und Menschen verbindet. Licht, das inspiriert, neues schafft, Mut und Kraft verleiht und die Fähigkeit hat, die Welt zu verändern und zu verbinden.

Kraftvolles Storytelling kann sogar noch weiter gehen. Es kann unbewegliche Systeme und Strukturen bewegen. Es kann Mechanismen umgehen, die Geschichten verbergen und unterdrücken. Es gibt diejenigen, die die Hinterlassenschaften vergessener Traumata ausgenutzt haben, um die bequemere Erzählung der Trennung, beizubehalten. Diese Ausbeutung ist eine Fortsetzung der Entmenschlichung, auf dem Kolonialismus, Sklaverei und Sklavenhandel basierten. Storytelling ist ein Gewinn, um diese Systeme zu dekonstruieren und Fachleute, Behörden, Regierungen, Gemeinschaften und Länder die an alten Narrativen festhalten zur Rechenschaft zu ziehen.
Deshalb ist es essentiell, wer unsere Geschichte(n) erzählt.

 

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7. OCTOBER 2022